Peter Graf_text
Gregor Kunz:

Im Duell der Linkshänder: Trau deinen Augen.
Zu Peter Graf, Maler




Grün wächst an Dunklem, geht über Grau, über'n Himmel mit Gelb; Bäume und Wiesen, das ist hinten, ein Kleid, das ist vorn: Man kennt sich. Rechts und links fassen Ocker und Brauns, fällt etwas Gelb, geht angeschnittenes Land hoch in zwei Ufern, der Küste. Dazwischen fließt Blau übers Braune von links durch die Mitte, ein Fluss, der geht, ein Meer, das kommt, der gebannte, der lange Moment.
Vorn liegt die Insel unbekannter Größe, hoch überm Wasser, wie's aussieht, steigt noch, wächst oder schrumpft. Das Polster ist gelb-grün, eng und besetzt, einer sitzt, zwei stehen, gestaffelt von rechts und geneigt nach links: Einhornmann, Einhornkind und die Frau, eine große und schöne, die viele Künste weiß... (so sagte es Homer). Mattgrün und statuarisch in sanfter Bewegung berührt die Frau das orangene Kind und etwas in Lüften, über der Spitze des kindlichen Horns. Klein steckt am Kleid ein Stein, ein Blau ohne Makel, wie nirgend sonst. Vorm Kind steht ein Rahmen, der spiegelt. Das Kind hält den Spiegel dem Vater, der braungrau Bepelzte fasst gleichfalls das Glas, schaut hinein und heraus, melancholisch und ernst.
Helles spiegelt der Spiegel, Weiß und Türkis, Schwarz und etwas Dunkelgras, fremd eine Kante, des Vaters anderes Ich und schwarzgewandet den Tod. Der Tod hat einen Hut auf und hält eine Uhr, die Zeiger verheißen nichts Gutes. Für wen? Wir wissen es nicht, aber ahnen. Der Spiegel spiegelt und trennt. Der Spiegel ist ein Fenster und spricht: Wahres, was sonst. Der Tod hat einen Schatten, der sagt: Da, wo ich stehe, steht eine Wand. Wo ist das? Nicht im Bild, doch vielleicht neben dir, neben mir...
Das Kind hat ein großes oranges Auge, es schaut über den Spiegel hinweg. Was sieht es, wenn es den Vater sieht, was sieht es hinter des Vaters Horn? Wir wissen es nicht, aber ahnen.
Von den Seiten ragen Hände ins Bild, die halten Pistolen. Nicht gegeneinander, obwohl es so aussieht. Sie zielen aufs Kind oder ins Blaue. Vater und Mutter bemerken sie nicht. Von rechts kommt Wind, die Bäume bewegen sich. Von unten kriecht einer herauf, der hat einen Hut auf, gelbe Hände mit Uhr, und hält einen Zettel. Was darauf steht, wissen wir nicht, aber ahnen: Namen, ein Vers, eine Bitte um Nachsicht...
Hinten, wo rechts und links ins Meer ragt das Land, sitzt unter Bäumen das Einhorn noch einmal, steht an der Staffelei der Maler und malt von der anderen Seite noch einmal was grade geschieht, weist auf den Fluss eine unbewaffnete Rechte mit ihrem Gelbgrün aufs Meer, nicht zu betreten, hockt unterm Hut in der Ferne, unterm unnützen Sonnensegel einer am anderen Ufer und schweigt.
Was schweigt er? Es gibt Männer mit zwei linken Armen, und Männer, die haben nur einen. Nobody is perfekt. Einhörner gibt's vielleicht gar nicht, ich seh ja auch keine...
Das Bild heißt: Das Duell der Linkshänder und wurde 1989 gemalt. Sachsen ist das nicht, oder?

Peter Graf kommt aus Sachsen und ist in Sachsen geblieben. Von ihm ließe sich vermutlich lernen, was wirklich gut ist an dieser Weltgegend, vermutlich auch, was hier seit je schief läuft. Geboren in Crimmitschau 1937, hat er die längste Zeit seines Lebens in Dresden verbracht, gut 44 Jahre, und lebt seither in Radebeul, zeichnend und malend.
Irgendwann zwischen Kindheit und Jugend, noch vor 1952 und Dresden, hatte er eine Begegnung mit Bildern, die ihn auf den Weg stellte, der ihn zum Maler machte, nicht zu irgendeinem, zu diesem: Peter Graf. Kunst setzt Künstler in Gang; es muss nicht viel sein, was diese Tür ins Andere öffnet, es reichen (nach meiner Erfahrung) schlecht gedruckte kleine Abbildungen, womöglich schwarz-weiß, aber im rechten Moment vor Augen. Was dann die Schwelle passiert, bleibt aktiv, unabhängig vom Auslöser selbst. Überliefert sind ein Zeichenzirkel in Zwickau, Klees „Zwitschermaschine“ und der Name Picasso.
So vorgeprägt, stößt Graf in Dresden zu einem Freundeskreis in Gründung, zu einer Gruppe junger und sehr junger Leute, die sich bei Kursen an der Volkshochschule begegnen und um Jürgen Böttcher (später Strawalde) versammeln: Peter Herrmann, Peter Makolies, Winfried Dierske, Ralf Winkler (später A.R.Penck) und noch andere. Böttcher-Strawalde, der sechs Jahre Ältere, hatte 1953 sein Kunststudium abeschlossen und gibt Kurse in Malerei und Zeichnung, die Jüngeren sind in der Berufsausbildung oder am Ende der Schule, offen für vieles und brennend interessiert an Kunst als Praxis und deren Geschichte, an Literatur und Jazz, den Zeit-Alphabeten. Man könnte das eine Initiationsgruppe nennen, schaut man auf die Folgen. Einen Namen gab dem Freundeskreis später A.R.Penck: Erste Phalanx Nedserd, 1991 während der Gruppenausstellung gleichen Namens in Nürnberg und Altenburg.(1)
Die Freundschaften reichen weit, teils fürs Leben, was akkumuliert wurde in Gesprächen, Kunstarbeit, Austausch, trägt ebenso lange. Peter Herrmann erinnert sich 2017 in einem Interview: Unsere Gespräche, die dann immer beim Böttcher oder beim Ralf im Atelier stattfanden, gingen ja bis tief in die Nacht rein, und Böttcher war der erste, der mir auch zeigte, was ein Pierro della Francesca ist oder ein Giotto. Der zeigte aber auch gleichzeitig Picasso und zeigte auch alte Dresdner Maler wie Lachnit, Tröger, Kretschmar, die er auch bewundert hat und auch toll fand. Ich jedenfalls hab dem sehr willig zugehört und mir dann auch Literatur besorgt usw., bin in die Kunstbibliothek gerannt. Aber der Anreger war Böttcher. Für mich jedenfalls. Je länger wir als Freunde zusammen waren, um so mehr haben wir uns dann gegenseitig angeregt. (…) Das war eine intensive Zeit, wie man sie dann später nie mehr erleben konnte. (2)
Strawalde ging 1955 nach Berlin, Penck wurde 1980 aus der DDR ausgebürgert, Peter Herrmann ging 1984 in den Westen. Peter Graf, Peter Makolies und Winfried Dierske blieben.

Peter Graf ist Autodidakt, auch hier heißt das: geblieben. Es war kein Wunsch, kein Plan. Wie seinen Freunden auch, blieb ihm das Studium an den Kunsthochschulen der DDR verwehrt. Dresden wollte ihn nicht, Berlin-Weißensee nahm ihn für ein Jahr, dann flog er raus, zusammen mit Georg Kern (später Baselitz), 1957. Die Begründung war legendentauglich, fast witzig, aber nur von heute aus gesehen: Die Exmatrikulation erfolgte, da sein Verhalten gegenüber den Professoren zum Teil herausfordernd frech war und er sich außerordentlich arrogant und überheblich verhielt. In Unterhaltungen brachte er zum Ausdruck, dass die künstlerischen Qualitäten vieler Professoren und Dozenten auf unserer Hochschule seiner Meinung nach unter dem Niveau der Studenten stehen.(3)
Natürlich war der Rauswurf ein Kränkung und auch ein Verlust. Ein Studium hätte geheißen: Zugang zu Material und Arbeitsräumen, Rüstzeuge umfassender und auch entlegener Art, freiwillig geteilte Energien, Begegnung und Verbindungen, Zeit für (oder gegen) Kunst, am Ende auch ein Zettel, jederzeit vorzuzeigen: Diplom-Künstler, staatlich beglaubigt. So ein Zettel war wichtig und ist es immer noch, für den Kunstbetrieb, den Verband und die Kollegenschaft, Institutionen und informelle Zusammenschlüsse, die sich durch Zuwahl und Ausgrenzung definieren, damals wie heute.
Was der Verbleib in der Kunstschule mit Graf gemacht hätte, kann man nicht wissen. Seit van Gogh sind Künstler Autodidakten, wusste Picasso, „man könnte fast sagen, naive Maler“. Akademien, auch das ist schon länger so, machen keine Künstler, sie fördern Adepten oder bringen sie um - sagen wir: ihr Potential. Günstigenfalls hätte Weißensee Graf gegeben, was er braucht und ihn ansonsten machen lassen. Klingt das wahrscheinlich?
Was der Rauswurf nach sich zog, ist indes verbürgt. In der DDR hatte jeder ein Recht auf eine Arbeitsstelle. Sich diesem Recht zu entziehen, war nicht erlaubt und strafbewehrt. Graf ging zurück nach Dresden und suchte sich eine Arbeit. Für 28 Jahre arbeitete er als Transportarbeiter, LKW-Fahrer, Lagerist und Gabelstaplerfahrer. Und dann hab ich eben abends gemalt. Wenn ich abends gemalt habe, brauchte ich nicht fragen, ob das jemand gefällt; ich hab gemalt wie ich wollte. (4)
Woher er die Energie nahm und was das sonst noch gekostet hat, weiß Graf allein, was es einbrachte, wissen auch seine Bilder.
Drei Bewerbungen um die Aufnahme in den Verband Bildender Künstler in Dresden blieben ohne Erfolg, die Mitgliedschaft war aber die Voraussetzung für die Steuernummer und Aufträge. Am fehlendem Zettel lagt es nicht, der Verband nahm Autodidakten auf, eher dürfte dem Fehlsichtigkeit der speziellen Dresdner Art zu Grunde gelegen haben, Dünkel, Konkurrenzdenken, selbstgenügsame Dummheit, ritualisierte Ignoranz. Aufgenommen wurde er anderswo, 1975 vom Verband in Karl-Marx-Stadt, nicht erst als Kandidat, gleich als Vollmitglied: das war eine Auszeichnung. Kollegialität unter Künstlern ist kein Thema, das oft Freude macht, aber manchmal eben doch. Arbeiten ging Graf auch danach noch, erst zehn Jahre später entlässt er sich ins Dasein eines „Freischaffenden“. Was auch heißt: diese Lohnarbeit war nicht nur lästige Pflicht und mehr als Geldverdienen. Ins Bild schaffte es diese Arbeitswelt aber selten.
Ich brauchte nicht mehr Freiheit für meine Malerei. Ich hab im Grunde genommen in der DDR-Zeit in erster Linie nicht von meinen Bildern gelebt – na gut, ich hab dann 85 aufgehört und dann hatte ich immer mal einen Auftrag. Ich kann ja ziemlich sparsam leben, ich muss nicht soviel haben, ne. (5)

Ich hab gemalt, wie ich wollte, sagt Graf. Der Satz ist eine Unabhängigkeitserklärung und nicht so selbstverständlich, wie man meinen möchte. Ehe das mit gutem Grund gesagt werden kann, müssen Künstler herausgefunden haben, was sie wollen und wie das geht, generell und dann partiell bei jedem Bild wieder. Wobei im Wie ein zweites Was unbestimmter Ausdehnung steckt. Form ist Sinngebung und letzten Endes der Griff nach der Welt, das Gespräch, geht’s gut, mit Allem. Das heißt auch, erfahren wollen, was die Welt von einem will, wollen kann, braucht, zulässt, erträgt. Was der Markt will oder die Partei, die Mode oder Nachbars Katze, kriegt man gesagt und aufgeschrieben bis zum Erbrechen. Alles andere muss gefunden, in aller Regel erarbeitet werden, ausgeprobt und angewandt, vorangetrieben und überschritten. Was, paradox genug, den Dialog mit der Kunst verlangt, der älteren und der alten. Die grundlegende Natur allein, menschlich und außermenschlich, reicht nicht. André Malraux: Künstler bilden sich (...) aus der Auseinandersetzung mit fremder, gereifter Form; nicht aus ihrer noch ungeformten Welt, sondern aus dem Kampf gegen eine Form, die andere dem Leben bereits auferlegt haben. (…) Wie ein großer Künstler beschaffen sein müsste, der sich niemals einem Werk der Kunst, sondern nur lebenden Formen gegenüber gesehen hätte, bleibt uns völlig unvorstellbar. (6)
Peter Graf, soviel lassen die aufzufindenden Abbildungen sehen, hat in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre seine Qualitäten beisammen, seine erarbeiteten Mittel verinnerlicht und agiert mit all dem souverän: Organisation des Bildraums, Figurenensemble und Inszenierung, das Programm der nahen Gegenstände, Farbbehandlung und Farbsprache. Letztere führt, oft oder auch immer, in den Ölbildern und Mischtechniken zumal. Ich glaube, die Farbe hat enorme Bedeutung für bestimmte innere Zustände. (…) Ich muss mit dem Pinsel arbeiten, das Malen ist für mich so etwas wie Kampf, aber kein böser, sondern ein vergnügter Kampf. (7)
Festmachen lässt sich dieses Zusammenführen aller Mittel ins Miteinander der Imagination vielleicht an dieser Arbeit: „Über das Malen im Jahr 1968“. Was nicht heißt, dass dieser Prozess damit sein Ende gehabt hätte: Malen ist lebenslanges Lernen, von sich selbst, unter anderem. Mit wem und mit welchen lebenden Formen der Kunst Peter Graf dabei den intensiven Umgang gesucht hat, sagen seine Bilder. Pablo Picasso, Arnold Böcklin, Jean-Antoine Watteau, Parmigianino, El Greco, Caspar David Friedrich finden sich als Anrufung, Zitat, Widmung, Wiederaufnahme, Verhandlung, Antwort, Überschreitung. Es gibt noch andere. Einflüsse kommen aus der Kunst, sagt Graf, und aus Erlebtem: Das ist gleich groß, möchte ich behaupten.(8)

An großen Bildergruppen ausmachen lassen sich drei: Stilleben, die Bildnisse und Figuren, dann die Szenen. Dazu kommen weitgehend abstrahierende Kompositionen und Landschaft. Die Übergänge sind fließend, die Gegenstände und Figuren wandern, sowohl in der Zeit als auch zwischen den Bildern.
Im Stilleben agiert nahe Vergangenheit, fast immer im ergänzten Dreiklang der Farben wie der Konstruktion. Immer gibt es eine tragende Platte im Raum, der Raum kann tief sein, doch zeigt er Charakter und Grenzen, seine Häusigkeit meist deutlich. Häufig ist eine Lötlampe hingestellt, ein handhabbarer Geisterkessel aus Messing, gefüllt mit Benzin, der Brenner ist angezündet, seine grünblaue Flamme steht wagerecht, ist gefrorene Aktion. Häufig ist auch der Fleischwolf in angehaltener Tätigkeit, treten eben geöffnete Fischbüchsen auf, noch voll, eine keimende Kartoffel, die es bald hinter sich hat, Birnen in stiller Erwartung, angebissen oder auch nicht, angeschnittener Käse, Kerzen, zerdrückte Getränkedosen. Fleischwolf und Lötlampe waren Dinge des Alltags und sind es nicht mehr. Es war, es ist, es wird, gedenke und iss. Dieses Pausieren der Dinge ist Tun, denn der Maler malt es, malte in der angehaltenen, einvernommenen Bewegung auch etwas, das nie pausiert noch aufhört: Zeit.
In den Bildnissen der Kinder, der Frau leben Gegenwarten fort, aufgehobenes Gefühl, bewahrte Sicht, das Licht des Staunen, Lieben, Zärtlichkeit. Mit der Welt (und der Kunst) sind sie sorgsam in Beziehung gesetzt. Vogel, Katze, Puppe führen fort und vernetzen, das Prinzip begegnet wieder in den Szenen. Deutlich anders sind die Köpfe ohne Namen, anders gebaut vor allem, gelegentlich fast ornamental, auch weit distanzierter. Und noch einmal eine Sache für sich sind die Selbstbilder: Sieht der Maler in den Spiegel, schaut nicht nur einer zurück. Das Selbst fühlt, denkt, altert anders als Spiegel es wollen und verhandelt mit der Hand, mit der Kunst, mit dem Sinn, das Ich mit dem Ich.
In den Figuren lassen sich Typus und Individualitäten sehen, festgehaltene und in Gang gesetzte Variationen, Metamorphosen, verkörperte Elemente des Bekannten und des Unbekannten. Frauen stehen im Meer und blicken zum Grund, was sie sehen und sehen wollen ist schwer zu deuten, Frauen sitzen mit dem Rücken zum Meer, Frauen liegen im Schaukelstuhl, im Sessel, schlafen, gehen in sich herum auf den taghellen Pfaden des Traums. Wohin? Wer Augen hat, wird sehen.
In den Szenen sind die Figuren, Bildnisse und Dinge aktiv, begegnen sich in metamorphem Austausch, besprechen und realisieren Welt. Häufiger erinnern die Ebenen der Bilder an Bühnen, auch dann noch, wenn der Bühnenraum Landschaft zitiert oder Landschaft ist. Nicht nur einmal ist die Bühne aber auch als Bühne ausgeführt: 1981 gibt es einen Vorhang, offen und feuergefähdet, aus dem der Direktor hervorschaut. Klatscht das Publikum? Es sollte. Gegeben wird der Farben Streit und Einvernehmen und über diese nicht weniger als die menschliche Komödie im Ganzen, tragisch durchheitert, auch komisch, witzig, tiefernst und melancholisch. Es ist, was es ist, also vieles in einem, falls es das geben sollte, das Eine. Auch sehr merkwürdig: Niemand klagt, niemand ist laut. Drohungen allerdings gibt es.
Es gibt Paare, Hängematten, Bäume, die in einem imaginären 17. Jahrhundert wurzeln, Harlekine und Zahnärzte, Bildhauer, ernste Nashörner und kindliche Elefanten, Maler, viele Vögel, Frauen und Männer mit Vögelköpfen, Einhornmenschen und Minotauren, Fische, Hunde und Jäger, Bilder im Bild, einen Hirsch, der gewinnt, Heupferde und Flammen, Vogelstrauß-Menschen, Kinder und Tomatenpflanzen, bedeutende Gruppen im Dreieck und auf schwankendem Kahn, gefräßige Maden, Hüte und Schlangen in Aktion... Abenteuernde Gelbs, Blaus, die dich umhaun, wenig Rot, Grüns von ganz unten und von der anderen Seite. Kein Zweifel: Peter Graf ist ein vermögender Mann.

Peter Graf lebe, was und wie er sich in seinen Bildern zeige, er male Bilder, die er so oder ähnlich gelebt, geträumt, gesehen hat, schreibt Michael Wüstefeld in seiner Laudatio zum Hans Theo Richter Preis 2001. Die Sachen, die auf meinen Bildern drauf sind, selbst die kleinsten Gegenstände, habe ich um mich (…) Es ist im Grunde immer so: das Leben fasziniert oder erschüttert oder stößt ab. Und irgendwie muß sich das in der Kunst doch zeigen. An welcher Ecke oder wie auch immer – irgendwie kommt es mit rein... (9)
In der Praxis heißt das auch: Er ist in seinen Bildern sehr anwesend, nicht nur mit der Hand, mit dem Kopf, auch als handelnde Figur weit über das Selbstportrait hinaus, vor allem in den 70ern und 80er Jahren und anders wieder nach 2000. Er malt in Person mitten im Bild, gut zu erkennen, oder weit hinten, inkognito, steht als Zirkusdirektor neben einer grandiosen Dompteursleistung, blickt durchs Glas und liegt dahinter in tiefem Schlaf, sitzt mit der Frau am Tisch, raucht, sitzt mit dem Papagei am Bett der schlafenden Freundin, ein armer Hidalgo. Wenn ein Harlekin Vögel aus dem Netz lässt oder ein Kind die Möve füttert, raunen die Papageien der Selbstportraits: Das ist er auch...
Verfolgt man die Wandermotive, die Pistole zumal, wird es unheimlich. Eine Waffe ist eine Drohung, spätestens wenn sie jemand in der Hand hält. Wer sie hält und wem womit droht, ist bei Graf eine spannende Frage. Eins der ersten Bilder (oder das erste), in dem die Pistole auftaucht, ist „Mein Watteau-Traum“, gemalt 1979. Das Bild korrespondiert mit Antoine Watteaus „Pierrot, genannt Gilles“, gemalt um 1719. In Watteaus Bild dominiert die Ganzfigur des Pierrot und das Weiß seines Kostüms, die Spannung baut sich über den Hintergrund, über das angeschnittene, an Pierrot weithin uninteressierte Personal der Commedia dell’arte, das sich um einen Esel schart. Bei Graf steht der Sohn Bruno in weißem Pierrot-Kostüm in einem großen Weinglas, in dem auch der Kopf seines Vaters erscheint. Im Hintergrund, am Rand des Tischs oder der Bühne, liegt noch einmal der Maler und schläft. Mit ihm verschränkt und angeschnitten vom Tisch gibt es rechts einen alten Mann, hager und kahl unterm Hut, ein sehr junges Mädchen im Spitzenkragen, den Esel und dahinter eine Tomatenpflanze, groß und hoch wie ein Baum. Der Alte umfasst mit der Rechten den Kopf des Esels, unter dem das Mädchen hervortaucht. Die Linke hält eine Pistole und zielt auf den Maler, bäuchlings im Traumfluss.
Seit die Götter nicht mehr zuständig sind, wachsen Träume in eigener Zuständigkeit, verbildlichen das Selbst oder zeigen es anders, in Gefühlssensationen etwa. Wer und was im Traum immer erscheinen mag, es ist (auch) der Träumer mit seinen Wünschen und Ängsten. Nach dieser Annahme sind auch der alte Mann, das Mädchen, das Kind, der Esel weniger Erfindung, Übernahme als Erscheinungen, Aspekte des Malers, selbst die Tomatenpflanze, die denn auch nicht nur Tomaten, sondern überdies ein Auge trägt. Das wird dann auch anderswo gelten, für die Einhornleute und Vogelkopfmenschen, die wechselnden Bootfahrer, auch für den Tod, der seit den 90ern gleichfalls ein häufiger Akteur ist in Grafs Bildern. Was ich male, bin immer bloß ich. (10)
Die Pistole kommt bis 1999 noch öfter vor, gehalten von Unbekannten, dem Einhorn, einer nackten Frau am Fluss. Die Unbekannten zielen aufs Kind des Einhorns, das Einhorn zielt auf ein Portrait des Malers, die Frau zielt gar nicht, wohl weil das „Frühstück für Madam“ unheimlich genug ist: Jemand hat seinen Kopf verloren. Kunst sei, meinte Malraux, eben nicht Traum, sondern Herrschaft über den Traum. (11) Traum ist, was niemand beherrscht, was aber geht, ist der beherrschte Umgang.

Was die Kunst will, wollen kann, liegt im Menschen, als Bedürfnis unter anderem, aktiver Wunsch, nicht formuliert oder auch nicht formulierbar. Ins Bild kommt, was fehlt, am Ende nicht nur dem Künstler gefehlt hat. Was es ist, zeigt sich im Moment des Erscheinens.
Was etwa Grafs Akt mit Vogelkopf (1999) so hinreißend macht, ist ja nicht allein die Frau, der Kopf, ihr Einvernehmen im Blatt, die braune Tinte, die Zeichnung darunter etc, es ist die Welt jenseits der Begriffe, die über all das Form wird, nonverbale Sprache. Vieles an Bildern lässt sich erklären, fast alles, nicht aber die Wirkung, die unmittelbar da ist und die Existenz erhellt. Vermutlich davon ist die Rede, wenn Picasso sagt: Ich finde. Oder Jannis Ritsos: Hinter einfachen Dingen verstecke ich mich, damit ihr mich findet./ wenn ihr mich nicht findet, werdet ihr die Dinge finden,/ ihr werdet die Dinge berühren, die meine Hände berührten,/ die Spuren unserer Hände werden sich kreuzen.(12)
Graf wurde gelegentlich versuchsweise den Naiven zugerechnet, einer Kategorie, die Wilhelm Uhde 1920 eingeführt hat, um dem Phänomen Henri Rousseau einen Namen zu geben, leider erfolgreich. Der Begriff wurde schon Rousseau nicht gerecht, zu Graf stimmt er gar nicht. Graf geht mit nahen Dingen um und komplexen Verhältnissen, er verhandelt in intensiver Malerei Fragen der Existenz und der Kunst, antwortet mit Bilderfindungen aller drei Augen, abgründig wahr und wirklich, dabei oft freundlich, selbst komisch. Grafs Imaginationen gehen über das Persönliche und dann weiter, machen individuelle Erfahrungen wesentlich.
Ein Kollege, Hubertus Giebe, nennt Graf hochreflektiert, sein Werk singulär und seine Bilder malerische Ereignisse, die ins Universelle weisen. (13) Das ganze Leben, so intensiv und so aufrichtig als möglich aufzunehmen und im Werk zu haben, sei der Beruf des Künstlers, meint Strawalde. (14) Auch das beschreibt Grafs Tun gut. Er sucht die Welt in menschlichen Grundsituationen zu fassen und lässt sie Ereignis werden: als Malerei und Zeichnung. Fügt der Welt also Wesentliches hinzu, das anders nicht zu haben ist. Braucht wer einen Oberbegriff, wäre (poetischer) Konterrealist eine erwägbare Option. Zu befürchten ist nur, auch das verstellte wie jede andere Zuschreibung den Blick. Also lassen wir's lieber: Graf ist Graf. Besser man traut seinen Augen. Es lohnt.


(1) Hinweis von Peter Graf, siehe auch: Erste Phalanx Nedserd. Ein Freundeskreis in Dresden 1953–1965; Ausstellung in der Kunsthalle Nürnberg, 10. Oktober bis 1. Dezember 1991 und im Staatlichen Lindenau-Museum Altenburg, 9. Februar bis 5. April 1992. Nürnberg 1991. Davon ab: Eine Phalanx ist eine Linienformation von erheblicher Kopfstärke, keine Vorhut, was Penck gewusst haben wird.
(2) Meine Universität waren meine Freunde. Den Malern Peter Herrmann und Peter Graf zum 80. Geburtstag, Kathrin Wenzel, MDR, 16.5.2017
(3) Meine Universität waren meine Freunde. MDR, 16.5.2017
(4) Meine Universität waren meine Freunde. MDR, 16.5.2017
(5) Meine Universität waren meine Freunde. MDR, 16.5.2017
(6) Andre Malraux, Psychologie der Kunst 2, Künstlerische Gestaltung, Hamburg 1958
(7) Henry Schumann, Ateliergespräche, Leipzig 1976
(8) Henry Schumann, Ateliergespräche, Leipzig 1976
(9) Henry Schumann, Ateliergespräche, Leipzig 1976
(10) Henry Schumann, Ateliergespräche, Leipzig 1976
(11) Andre Malraux, Psychologie der Kunst 2, Künstlerische Gestaltung, Hamburg 1958
(12) Jannis Ritsos, Deformationen. Eine innere Biographie, Köln 1996
(13) 7. Bautzener Kunstpreis für Peter Graf, in: Hubertus Giebe, Der geschliffene Elfenbeinturm, Leipzig 2010 und im Gespräch 2021
(14) Der Maler und Filmemacher Jürgen Böttcher – Strawalde, Goethe-Institut, 2004

In: Ostra-Gehege 100 (II/2021)>


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